Ich stelle mir gerade Dein Gehirn vor: dort ist irgendwo zwischen dem Broca- und dem Wernicke-Areal eine große, gut sortierte Vokabelliste (ich nenne die einfach mal spontan Gyrus temporalis medius). Hier schreiben sich Deine Synapsen alles fleißig auf, vom ersten >Mama< bis hin zu >Zonk<. Auf diese Listen greifen dann Dein Frontal- oder Dein Temporallappen zurück, wenn Du sprechen (aktiver Wortschatz) oder verstehen willst (passiver Wortschatz).
Das Ganze folgt natürlich bestimmten Regeln – hallo Grammatik. Wenn Du sprichst, hängst Du also einfach Vokabeln aneinander, konjugierst ein bisschen hier, deklinierst ein bisschen da und schwuppdiwupp hast Du einen verständlichen Satz produziert (damit Du zuhause angeben kannst: die Forschung nennt das generative Grammatik). Ähnlich, wie auch ein Computer funktioniert.
Das klingt plausibel oder? Punkt für Dich? Warte nur, denn jetzt komme ich!
Ich behaupte, Du unterschätzt Dein Gehirn. Und Du unterschätzt die Sprache.
Sie ist weit mehr als ein plump generierter Code. Sie ist dynamischer, flexibler und kreativer.
Dein passiver Wortschatz ist keine einfache oder starre Vokabelliste, die abgerufen wird.
In der Konversations- und Interaktionslinguistik gehen wir davon aus, dass sich Dein aktiver und Dein passiver Wortschatz an sogenannten Skripten und Frames bedienen.
Bist Du beispielsweise in einem Restaurant, ruft Dein Hirn das Restaurant-Skript ab. Vereinfacht dargestellt: in Deinem umfangreichen Fundus an Formulierungen und Sätzen treten die hervor, die mit dem Hashtag #restaurant gekennzeichnet sind.
Deshalb versteht jeder den ungrammatischen Satz „Die Rechnung, bitte!“ obwohl er eben gegen die erlernte Grammatik verstößt. Würdest Du jedoch der Bedienung den grammatischen – also korrekten – Satz „Die Türen schließen selbstständig!“ entgegenwerfen, der man gemeinhin dem Skript #bahnfahren zuordnet, würden sicher alle Gäste samt Belegschaft irritiert in Deine Richtung starren.